Donnerstag, 11. August 2022

Die Blöße des Erlösers – Michelangelos nackter Christus

Michelangelo: Auferstandener Christus (1519-1521); Rom, Santa Maria sopra Minerva
Die Marmorskulptur des auferstandenen Christus, die Michelangelo von 1519-1521 für einen Grabaltar in der römischen Kirche Santa Maria sopra Minerva schuf, war ursprünglich komplett nackt. Die Auftraggeber, Metello Vari Porcari und sein Vetter Pietro Paolo Castellani, hatten die Figur 1514 ausdrücklich so bestellt. Ein gänzlich unbekleideter Christus, lebensgroß? Für Michelangelo scheint das kein Problem gewesen zu sein, denn zum einen orientierte er sich an der Antike, die den nackten menschlichen Körper mit größter Selbstverständlichkeit darstellte. Zum anderen galt die ,,ostentatio genitalium“ als Siegel und Beweis der Fleischwerdung Christi.
S. Maria sopra Minerva in Rom, davor Berninis Elefant
Aber dabei blieb es nicht. Die Nacktheit Christi muss schon bald Widerspruch erregt haben. Spätestens ab 1588 bedeckte man die Blöße des Erlösers mit einer bronzenen Draperie; trotzdem schlug ein Mönch im 17. Jahrhundert das Geschlechtsteil der Figur ab. 1735 und nochmals 1933 wurde das Lendentuch erneuert. Sämtliche Nachbildungen der Figur aus dem 16. Jahrhundert zeigen die Skulptur bereits verhüllt“, als diese noch unberührt in Santa Maria sopra Minerva stand – so etwa die Marmorkopie des italienischen Bildhauer Taddeo Landini (1561–1596), die er 1579 für die Kirche Santo Spirito in Florenz anfertigte.
Der Minerva-Christus ohne Bronzedraperie
Darüber hinaus versah man den rechten Fuß von Michelangelos Auferstandenem Christus mit einem metallenen Schuh, um ihn vor den zahlreichen Küssen römischer Verehrerinnen zu schützen. Die Römer waren traditionell abergläubisch: „Während etwa die jungen Männer sich vom Berühren der Hoden des Pferdes der Marc-Aurel-Statue auf dem Kapitol eine Steigerung ihrer Zeugungskraft versprachen, glaubten die jungen Frauen, daß ihnen ein Kuß auf den rechten Fuß des Christus bei der Partnersuche helfen würde. Später dann suchten die schwangeren Frauen Jacopo Sansovinos Madonna del Parto in S. Agostino auf, um für eine komplikationslose Niederkunft zu beten. Skulptur gehörte also im 16. Jahrhundert in Rom in einem Maße zur Alltagskultur, wie man es sich heute kaum mehr vorstellen kann“ (Zöllner 2007, S. 234/238).
... und mit Metallschuh
Taddeo Landini: Auferstandener Christus (1579); Florenz, Santo Spirito
Michelangelo stellt seinen Christus (Höhe 205 cm ohne Kreuz) zwar mit den Passionswerkzeugen Strick, Essigschwamm und Bambusrohr dar, was an die Tradition des mittelalterlichen Schmerzensmannes erinnert. Allerdings fehlen Spuren der Folter und des Todeskampfes, ebenso direkte Hinweise auf das vergossene Blut Jesu wie etwa Nägel, Lanze oder Dornenkrone; auf die Wundmale hat der Künstler völlig verzichtet, an den Händen und Füßen sind sie später als kaum sichtbare kleine Löcher hinzufügt worden.
 
Nicht den Leidenden zeigt Michelangelo, sondern den glorreich auferstandenen Christus. Entsprechend wird das Kreuz wie ein Wahrzeichen des Sieges und der Herrschaft über den Tod präsentiert. Der Auferstandene umschließt es mit seinen Armen und betont damit, dass er seinen Kreuzestod freiwillig auf sich genommen hat. Auch die Haltung des Körpers, seine ,Serpentinata‘-Verschränkung mit dem großen Kreuz, von dessen Querbalken der Körper optisch eingespannt wird, zeigt die Untrennbarkeit von Figur und schicksalsträchtigem, aber auch heilsgeschichtlich bedeutsamem Attribut“ (Schwedes 2000, S. 357). Hinter der aufrecht stehenden Figur sinkt das Leichentuch Christi zu Boden und bedeckt ein baumstumpfartiges Gebilde – auch dies ein Hinweis auf die Auferstehung.
Wir sehen einen Christus in anmutiger, völlige Gelassenheit ausstrahlender Pose, „die sich nicht zuletzt darin ausdrückt, daß die Figur insgesamt von einem weichen Bewegungsfluß erfaßt ist“ (Poeschke 1992, S, 101). Sein ebenmäßig-fester, athletisch-wohlgeformter Leib verweist auf das antike Körperideal, das auch bei dieser sakralen Thematik für Michelangelo bestimmend bleibt. Ganz ähnlich hatte Michelangelos Zeitgenosse Albrecht Dürer nachdrücklich betont, dass Christus als schöner Mensch analog dem Apoll der Griechen zu gestalten sei (siehe meinen Post Aus Apoll wird Adam). Ausgesprochen unantik ist beim Minerva-Christus allerdings die von der Bauchzone ausgehende Drehung der Figur. Christoph Luitpold Frommel erinnern die gegenläufigen Bewegungen von Blick und Körper an Raffaels Galatea aus der römischen Villa Farnesina (1514). Dass der Betrachter tatsächlich keine antike Gottheit vor sich wähnen musste, zeigt auch das Haupt des Auferstandenen: Es ist von Michelangelo nach dem traditionellen Antlitz Christi gestaltet, dass sich der Legende nach dem Schweißtuch der Veronika eingeprägt hat und dann als Vera Icon (wahres Abbild“) überliefert wurde.  
Raffael: Triumph der Galatea (1515); Rom, Villa Farnesina
(für die Großansicht einfach anklicken)
Die Nacktheit Christi lässt sich auch biblisch begründen, wenn man den Sohn Gottes als zweiten Adam versteht. Durch dessen Gehorsam wird nämlich die Todverfallenheit des Menschen – Auswirkung des Sündenfalls – aufgehoben: „Wie nun durch die Sünde des Einen die Verdammnis über alle Menschen gekommen ist, so ist auch durch die Gerechtigkeit des Einen für alle Menschen die Rechtfertigung gekommen, die zum Leben führt. Denn wie durch den Ungehorsam des einen Menschen die Vielen zu Sündern geworden sind, so werden auch durch den Gehorsam des Einen die Vielen zu Gerechten“ (Römer 5,18-19; LUT). Da Adam beim Sündenfall nackt war, konnte und musste auch der Erlöser als seine typologische Entsprechung nackt dargestellt werden. Die makellose Nacktheit des Auferstandenen nimmt sich also nicht nur das Ideal der Antike zum Vorbild, sondern symbolisiert ebenso die paradiesische Vollkommenheit, „die keine Scham kennt, weil es in ihr keine Sünde gibt“ (Prange 2000, S. 92). Es sind der Opfertod und die Auferstehung Christi, die dem Menschen die Rückkehr zu solch paradiesischer Vollkommenheit wieder ermöglichen.
Für eine Deutung der Skulptur als zweiter Adam spreche, so Gerda S. Panofsky, dass Darstellungen des aus seinem Grab auffahrenden Christus ihn nie ohne sein Leichentuch zeigen. Allerdings scheint ihr das Tuch hinter dem Rücken Christi entgangen zu sein, denn sie erwähnt es in ihrem Aufsatz zu Michelangelos Skulptur mit keinem Wort. Auch steige Christus niemals mit seinem baumlangen Kreuz aus dem Sarkophag, sondern halte allenfalls eine Siegesfahne oder ein dünnes Prozessionskreuz in der Hand.
Michelangelos Statue war ursprünglich für eine enge, dunkle Nische konzipiert und angefertigt worden, aus der Christus regelrecht einen Schritt nach vorn macht, als trete er aus dem Grab und dem Schatten des Todes hervor. Das linke Bein Christi trägt die gesamte Last des Körpers. „The advanced right leg is in the act of pressing the front part of the foot into the ground; the heel is raised and the toes curl downward as if making an impression in the soft earth“ (Wallace 1997, S. 1276). Der ca. zehn Zentimeter hohe, rauhen Fels imitierende Stein direkt unter den Zehen Christi gehört nicht zur Originalskulptur; er wurde zu einem unbekannten Zeitpunkt als separater Sockel hinzugefügt. Der Fußabdruck des Auferstandenen gehört zur Ikonografie mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Darstellungen der Himmelfahrt Christi, wie z. B. auf Albrecht Dürers Holzschnitt aus der Kleinen Passion zu sehen. William E. Wallace geht davon aus, dass Michelangelo mit der Bewegung des rechten Fußes, der sich in den Stein zu drücken scheint, auch die Himmelfahrt Jesu andeutet.
Albrecht Dürer: Himmelfahrt Christi (1510); Holzschnitt
Auf der vom Betrachter aus linken Seite von Michelangelos Statue dominieren das Kreuz mit seinem breiten Balken und die Passionswerkzeuge, mit seinem Kopf wendet sich Christus jedoch davon ab und leitet so über zur anderen Seitenansicht, „in der sowohl die herkulische und unversehrte Leiblichkeit seines Körpers, der Triumph des Auferstandenen über den Tod, als auch die Macht und Stärke des Gottessohnes gefeiert werden“ (Schwedes 2000, S. 360). Michelangelos Skulptur ist deswegen ein Andachtsbild, das zum einen den sündhaften Menschen an den für ihn gestorbenen Sohn Gottes erinnert und somit zur Buße auffordert, zum anderen die Hoffnung des Gläubigen auf das durch Christi Opfertod für ihn errungene ewige Leben nach dem Tod bestärkt.
Michelangelo: Auferstandener Christus (1. Fassung); Bassano Romano, San Vincenzo Martire
Deutlich sichtbar: die dunkle Ader im Gesicht von Michelangelos erster
Version des Christus
Der Minerva-Christus ist Michelangelos zweite Version dieser Skulptur. Er fertigte sie an, weil auf der linken Gesichtshälfte eine störende dunkle Maserung zum Vorschein gekommen war – der Meister ließ den begonnenen Marmorblock unvollendet liegen. Christoph Luitpold Frommel vertritt die Ansicht, der junge Bernini habe dieser ersten Statue im Auftrag des Marchese Vincenzo Giustinani um 1618/19 sein heutiges Aussehen verliehen. Im Gegensatz zum Minerva-Christus ist das rechte Knie der zweiten Fassung leicht gebeugt und das Bein daher etwas zurückgesetzt. Der Kontrapost, Kennzeichen der klassischen antiken Statue, wird so zum bestimmenden Motiv der Figur. Der linke Arm umfasst nicht über die Brust hinweg das Kreuz, sondern hängt an der Seite herab, die Linke greift dabei in die Falten eines Tuches, das teilweise einen stützenden Baumstumpf bedeckt.
Die Zweitfassung der Skulptur wurde im Sommer 1521 von Florenz aus verschifft. Als die Statue endlich in Rom ankam und in S. Maria sopra Minerva aufgestellt werden sollte, mussten noch einige Details vollendet werden. Michelangelo betraute seinen Assistenten Pietro Urbano mit dieser Aufgabe – der jedoch pfuschte, und zwar am rechten Fuß, an der rechten Hand, an der Nase und am Bart, wie Sebastiano del Piombo dem Meister in einem Brief berichtete. Die Figur wurde dann von Federico Frizzi, einem weiteren Bildhauer, wieder „repariert“. Frizzi fertigte auch die Nische an, vor oder in der Michelangelos Auferstandener Christus zunächst ihren Platz fand.

Literaturhinweise
Baldriga, Irene: The first version of Michelangelo’s Christ for S. Maria sopra Minerva. In: The Burlington Magazine 142 (2000), S. 740-745;  
Danesi Squarzina, Silvia: The Bassano ‛Christ the Redeemer’ in the Giustiniani collection. In: The Burlington Magazine 142 (2000), S. 746-751; 
Danesi Squarzina, Silvia: The Risen Christ. In: Matthias Wivel (Hrsg.), Michelangelo & Sebastiano. National Gallery Company/Yale University Press, London 2017, S. 173-179; 
Frommel, Christoph Luitpold. Die schwarze Ader im Gesicht des Christus. In: F.A.Z. vom 25. April 2009;
Frommel, Christoph Luitpold: Michelangelos „Auferstandener Christus“, seine erste Version, und der junge Bernini. In: artibus et historiae 62 (2010), S. 15-34;
Lotz, Wolfgang: Zu Michelangelos Christus in S. Maria sopra Minerva. In: Gert von der Osten und Georg Kauffmann (Hrsg.), Festschrift für  Herbert von Einem zum 16. Februar 1965. Verlag Gebr. Mann, Berlin 1965, S. 143-150;
Panofsky, Gerda S.: Die Ikonographie von Michelangelos ›Christus‹ in Santa Maria sopra Minerva in Rom. In: Münchner Jahrbuch für Bildende Kunst 1988, S. 89-112;
Poeschke, Joachim: Die Skulptur der Renaissance in Italien. Band 2. Michelangelo und seine Zeit. Hirmer Verlag, München 1992, S. 100-102;
Prange, Peter: Von Feigenblättern und anderen Verhüllungen – Nachrichten aus Moralopolis. In: Peter Prange/Raimund Wünsche, Das Feige(n)blatt... Staatliche Antikensammlungen und Glyptothek, München 2000, S. 65-119;
Schwedes, Kerstin: Wortlose Beredsamkeit. Evokatorische Bildsprache von Michelangelos Römischer Pietà und dem Minerva-Christus. In: Hartmut Laufhütte (Hrsg.), Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit. Harrossowitz Verlag, Wiesbaden 2000, S. 355-372;
Wallace, William E.: Miscellanae Curiositae Michelangelae: A Steep Tariff, a Half Dozen Horses, and Yards of Taffeta. In: Renaissance Quarterly 47 (1994), S. 330-350;
Wallace, William E.: Michelangelo’s Risen Christ. In: The Sixteenth Century Journal 28 (1997), S. 1251-1280; 
Wallace, William E.: Michelangelo. Skulptur – Malerei – Architektur. DuMont Buchverlag, Köln 1999;
Weber, Gerold: Bemerkungen zu Michelangelos Christus in S. Maria sopra Minerva. In: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte XXII (1969), S. 201-203;
Zöllner, Frank: Michelangelo. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2007;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 20. Februar 2024)

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